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Fachkräftemangel in der Textil- und Bekleidungsindustrie

Interview mit Urs Konstantin Rouette – ROUETTE EXECUTIVE SEARCH

Gibt es in der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie einen Fachkräftemangel?

Ja und das nicht erst seit heute, jedoch wird sich die Situation in den nächsten Jahren, wenn alle Baby-Bommer in den Ruhestand verabschiedet wurden, noch einmal verschärfen. Dann wird nicht mehr nur etwa die Hälfte aller Unternehmen der Branche vom Fachkräftemangel betroffen sein, sondern nahezu jedes.
Das größte Kapital der Unternehmen – ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – ist das wertvollste Gut und zugleich das begehrteste. Die Nachbesetzung vakanter Stellen ist bereits heute nicht mehr ohne weiteres möglich. Die Machtverhältnisse auf dem Arbeitsmarkt haben sich bereits zugunsten der Arbeitnehmer verschoben.

Welche Risiken birgt ein Fachkräftemangel und welche Auswirkungen hat er?

Motivierte, gut ausgebildete und leistungsfähige Fachkräfte sind die Basis für am Markt erfolgreiche Produkte. Darauf baut jeder Unternehmenserfolg maßgeblich auf.
Kann ein Unternehmen offene Stellen nicht mehr schnell genug nachbesetzen oder ist generell die Fluktuation zu hoch, können Produktstrategien und Unternehmensziele nicht mehr erreicht werden, dies gefährdet den Unternehmenserfolg. Ausbleibender Erfolg wirkt sich auf die Attraktivität eines Unternehmens negativ aus, es wird nicht mehr als verlässlicher und attraktiver Arbeitgeber wahrgenommen. Und hat noch größere Probleme, seine Vakanzen zu besetzen. Am Ende steigen die Preise. Nicht für die Produkte, sondern für die Fachkräfte. Heuert man bei einem unattraktiven Unternehmen an, lässt man sich das bezahlen.
Die gute Nachricht: Damit es gar nicht erst so weit kommt, können Unternehmen viel dafür tun, in der Arbeitnehmergunst zu steigen.

Können Sie uns erklären wie sich der Fachkräftemangel (in der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie) in den nächsten 5-10 Jahren entwickeln wird?

Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat nicht nur wie alle anderen Industrien mit der Tatsache zu kämpfen, dass bis 2036 die geburtenstarken Jahrgänge der 1950er und 1960er Jahre in Rente gehen, sie hat auch ein Imageproblem. So ist das Studienfach Textiltechnik in Deutschland nicht unter den Top 20 der beliebtesten Studienfächer zu finden. Trotz eines Umsatzwachstums der Branche in den Jahren 2013-2023 geben viele Unternehmen ihr Geschäft auf oder haben Insolvenz angemeldet, was viele Nachwuchstalente abschreckt, sie wenden sich lieber anderen, vermeintlich zukunftsträchtigeren Branchen zu. Die Textil- und Bekleidungsindustrie hat vielfach den Ruf, eine Industrie zu sein, für die der Abgesang bereits angestimmt wurde. Starre Hierarchien, unflexible Arbeitszeitmodelle insbesondere in der Fertigung, die Knebelung durch gesetzliche Vorgaben und steigende Produktionspreise machen der Branche zu schaffen, begünstigen aber auch ein Umdenken und das Beschreiten neuer Weg. Die Branche kann sich neu erfinden.

Wie könnte die Attraktivität der Arbeitsplätze insbesondere in den Fertigungsbetrieben erhöht werden?

Eine leistungs- und damit marktgerechte Vergütung reicht häufig nicht mehr, um Fachkräfte für ein Unternehmen zu gewinnen. Ein Unternehmen muss auch in anderen Belangen attraktiv sein.
Die Fertigung ist der Bereich eines Unternehmens, der im Hinblick auf Kosten und Kundenanforderungen dem größten Druck unterliegt. Vielfach wird dieser Druck in Form von starren Vorgaben und unflexiblen Arbeitszeitmodellen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weitergegeben.
Unternehmen können jedoch ihre Fertigungsstrategien neu bewerten und unter den Gesichtspunkten Risikomanagement, Nachhaltigkeit und Digitalisierung so umgestalten, dass die Attraktivität der Arbeitsplätze steigt und ein echter Wettbewerbsvorteil beim Kampf um die Fachkräfte geschaffen wird.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wollen sich mit ihrem Unternehmen identifizieren und wünschen sich persönliche Weiterentwicklung und eine Tätigkeit, die abwechslungsreicher als bisher ist. Führungskräfte, die offen kommunizieren, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wertschätzen und unterstützen, tragen dabei maßgeblich zu einer positiven und fruchtbaren Arbeitsatmosphäre bei.

Die Textilindustrie befindet sich in einem Transformationsprozess zu einer nachhaltigeren Industrie. Wird es dadurch zu Veränderungen der Anforderungen an die Fachkräfte kommen?

Ökologisches Handeln wirkt sich schon immer auch ökonomisch positiv aus. Deshalb hat die Textilindustrie bereits früh in Technologien wie Wärme- oder Wasserrückgewinnung, Ultrafiltration oder Rezeptoptimierung investiert. Die Ausbildung an den Hochschulen wurde bereits in den 1990er Jahren so umgestaltet, dass die dort ausgebildeten Fach- und Führungskräfte zum Thema Nachhaltigkeit sensibilisiert werden. Nachhaltigkeit ist bereits in der Industrie angekommen und ist bereits heute ein wichtiger Motor für Weiterentwicklung.

Künstliche Intelligenz ist in aller Munde. Wird die KI auch die Arbeitswelt in der Textilindustrie verändern?

Mit der Implementierung von KI auf handelsüblichen Smartphones und der Einführung von ChatGPT hat die KI bereits Einzug in unser aller Alltag inklusive unserer Arbeitswelten gehalten.
Auch in der Textilindustrie sind viele Einsatzbereiche für die künstliche Intelligenz denkbar, um die raren Fachkräfte von standardisierten, langweiligen Aufgaben zu entlasten und ihre Arbeitskraft für wertschöpfende Tätigkeiten frei zu setzen. In der Textilindustrie können mit der KI Programmierengpässe überwunden, die Cybersicherheit erhöht und in Form von Robotik sogar einfache Fertigungsaufgaben übernommen werden.

Welche Zukunft hat Ihrer Meinung nach die Textil- und Bekleidungsindustrie in Europa?

Die Zukunft der europäischen Textilindustrie steckt vor allem voller Chancen. Die Branche kann ausgetretene Pfade verlassen und sich neu erfinden. Die Textil- und Bekleidungsindustrie kann dabei die junge Generation von Fachkräften, die mindestens ebenso gut ausgebildet ist wie die vorherigen Generationen, und deren Ideen für sich gewinnen. Damit findet die notwendige Transformation statt, die Erfolge möglich macht, ausbaut und so die Zukunft sichert.

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